Die dunklen Felshänge des Allgäuer Hauptkamms blicken durch dichtes Schneetreiben teilnahmslos auf uns herab, als sich auf einmal tausend Weißtöne vor uns ausbreiten. Wir haben mit der letzten Hügelkuppe soeben die Waldgrenze hinter uns gelassen und stehen nun auf dem Knie des Einödbergs, unweit des Gipfels. Der Name ist Programm – was die Einsamkeit angeht. Aber wir sind nicht allein.

„Guck mal, alles voller Schlümpfe.“ Stephan sieht mich etwas irritiert an, bevor er in seinen Landjäger beisst und sein Blick meinem Zeigefinger folgt. Dabei habe ich Recht: Knapp unter uns sind sie! Große, kleine, liegende, stehende, rennende, springende… Fast jeder Tanne hat der Wind lustige Schlumpfmützen aus verwehtem Schnee aufgesetzt. So gleicht die ganze Szenerie nun einem zu Eis erstarrten Kinderfilm aus dem Land der Schlümpfe. Aber auch wenn wir beide in dazu passendem Blau gekleidet sind, ist uns jetzt nicht nach Schlumpf-TV zu mute. Es ist kalt und wir sind platt. Fast vier Stunden haben wir uns vom Parkplatz der Fellhornbahn auf Schneeschuhen durch den am Ende teils hüfthohen, ungespurten Schnee empor und bis hierher gekämpft. Anfangs mit vier, später mit drei, am Ende nur mit zwei oder einem mageren Schritt pro Doppelstockeinsatz. Vorbei an vereisten Wasserfällen, durch Nebelfetzen, über umgestürzte Bäume und die eine oder andere Gemsenspur. Eine unglaubliche Tour. Keiner Menschenseele sind wir begegnet. Keinen Laut haben wir gehört. Außer das dumpfe Knirschen des Schnees, wenn wir ihn mit unseren XXL-Füßen gleich zweier Yetis wie Backpulver vor uns her schoben.

Wie nah die Wildnis doch oft liegt. Kaum ist Schlechtwetter, schon ist man allein.

„Was, schon so spät?“ Überrascht blicken wir uns an. Bereits in etwas mehr als einer Stunde wird die Dämmerung langsam aus den vernebelten Tälern zu uns empor kriechen. Weiß würde zu Blau und bald darauf zu Schwarz. Höchste Eisenbahn also, denn ein gutes Stück Weg liegt ja noch vor uns! Wir müssen nun unbedingt die drei Häuser der Einödbergalpe finden, um von dort auf dem Säumerpfad hinab ins Tal fünfhundert Meter weiter unten gelangen zu können. Später im Warmen werden wir uns eingestehen, dass wir exakt an dieser Stelle wohl besser hätten umkehren sollen.

Per Nasenpeilung in die Falllinie.

Der erste Schneefall in den Oberstdorfer Alpen hatte einfach zu gründliche Arbeit geleistet. So sind unsere lang ersehnten drei Alphütten bereits bis zum Sims eingeweht, als wir sie wenig später und ohne weitere Pause passieren. Und das Schneegestöber geht weiter. Natürlich ist kurz darauf auch der Pfad zurück ins Tal spurlos wie unter Bergen von Schlagsahne verschwunden: Brusthohe Schneemassen überall! Also ziehen wir unsere Schneeschuhe aus und stoßen den steilen Waldhang letztlich per Nasenpeilung und nahezu in Falllinie hinunter.

Auf dem Hosenboden, von Baum zu Baum. War die immer steilere Hangneigung zunächst unsere Verbündete auf dem raschen Weg nach unten, so wird sie urplötzlich jedoch zum Problem:

„Hey, da vorne is’ nix mehr.“

„Wie, nix mehr?“

„Ja nix mehr eben. Da sind ein paar Bäume und danach sieht man den Talgrund mit unserer Hütte drauf.“

In der Tat: Wir hatten unseren Waldhang soeben verlassen und steckten nur etwa zehn Meter oberhalb einer felsigen Steilwand im Pulverschnee. Umgeben von einem System aus kleinen Wäldchen und Karen, durch die ab und an kleine Staublawinen ins Tal rieseln. Unser Berggasthof ist zwar zum Greifen nah – aber vorerst noch meilenweit entfernt. Goldgelb schimmert sein gemütliches Licht zu uns empor und erinnert dabei an die legendäre Bratapfeltorte, die in der Gaststube sicher schon auf uns wartete. Wenn wir doch nur schon dort wären…

So kurz vor dem Ziel und wir kommen nicht weiter. Das darf doch nicht wahr sein!

„Ist das da drüben ein Geländer?“ Ja, Stephan hatte Recht: Wir hatten instinktiv doch noch den eigentlichen Weg erreicht! Standen wahrscheinlich sogar direkt darauf ohne es zu merken! Sofort fassen wir neuen Mut und tasten uns vorsichtig durch ein kleines Kar hinüber zu der gesicherten Stelle. Bald darauf waren wir unterhalb der letzten Felsen durch brusttiefen Schnee schon fast in Sicherheit gerutscht, als der Berg uns doch noch einmal kurz in seine eisige Zange nimmt: Schlagartig sehe ich nur noch weiß, spüre weder Halt noch Boden. Bis über den Kopf stecke ich im Treibsand aus pulvrigem Schnee und rutsche immer tiefer hinein. Mit einer gehörigen Portion Adrenalin im Blut reiße ich mir den Buff vors Gesicht, kann mich schließlich irgendwie befreien und mit großer Mühe den Steilhang ein kurzes Stück zurückkämpfen, um in eine andere Spur zu gelangen.

Geschafft. Schon eine halbe Stunde später stehe ich erschöpft unter der warmen Dusche und freue mich auf die leckere Bratapfeltorte, die mir das Licht der Gaststube beim Blick auf den Hof versprochen hatte.

Die blaue Stunde hat soeben begonnen.