Magic Southpole: Mike Horn am Südpol (10.01.2017) während seiner Antarktis-Durchquerung im Rahmen von Pole2Pole. Gezeichnet nach Fotovorlage, mit freundlicher Genehmigung von Mike Horn.

Magic Southpole: Solo-Rekorde in der Antarktis

Seit dem dramatischen Südpol-Duell (1912) zwischen Robert Scott und Roald Amundsen und dem heldenhaften Höllenritt von Ernest Shackleton (1917), ist die Antarktis immer wieder Schauplatz unglaublicher menschlicher Leistungen gewesen und wird wohl auch weiterhin entsprechende Charaktere magisch anziehen.

So kam es erst im Jahr 2018 wieder zu einem weißen Rekord: Der ehemalige Triathlonprofi Colin O`Brady überquerte den größten Eiskontinent der Welt als erster zu Fuß und ohne jegliche Hilfe. In sagenhaften 54 Tagen. Die Weltpresse jubelte. Etwas später erreichte auf dieselbe Art und Weise auch der zeitgleich gestartete Louis Rudd das Ziel.

Zwei schier unglaubliche Leistungen, aber: „Als erster zu Fuß und ohne Hilfe?“ Wer sich jetzt an die Antarktis-Überquerungen von Reinhold Messner mit Arved Fuchs (1990), Borge Ousland (1997) und Mike Horn (2017) erinnert und sich am Kopf kratzt: Willkommen im Club, denn so ging es mir auch. Deshalb hab ich mal etwas nachrecherchiert.

Solo, unsupported, unassisted – was ist das?

Eines muss man vorausschicken: Wer die „weiße Hölle“ im Süden unserer Welt ohne irgendwelche Technik überquert, dabei auch noch allein oder schneller war als andere, ist wohl per se bereits ein Superheld, bzw. -Abenteurer. Dennoch tut angesichts des allzu großen Hypes um die Leistung O‘Bradys vielleicht etwas Einordnung Not. Schließlich sind die anderen vor ihm ja auch keine Nasenbohrer.

Und dabei kommen recht rasch die Begriffe „solo“, „unsupported“ und „unassisted“ ins Spiel. Sie werden solchen Abenteuerprojekten gerne beigestellt, um sie zu klassifizieren.

Solo bedeutet „ohne Partner“, der einem z. B. helfen oder in dieser Ödnis motivieren könnte. Alleintaten gelten, was die psychische Belastung anbelangt, als besonders schwierig. Messner und Fuchs sind in dieser Wertung also schon mal „raus“.

Unsupported bedeutet beispielsweise, dass – etwa von einem zweiten Expeditionsteam – entlang der geplanten Route zuvor keine Proviantdepots angelegt wurden, oder kein weiteres Team als möglicher Rettungsanker unterwegs ist. Dies haben alle erwähnten Solo-Akteure so gehalten.

Unassisted heißt, dass keine Hilfsmittel wie z. B. ein Kite-Schirm verwendet werden, der den Akteur auf Skiern deutlich schneller über die Strecke befördert, als zu Fuß. O’ Brady und Rudd waren ohne unterwegs, Ousland und Horn zeitweise mit.

Wenn O‘ Brady nun also sagt, er sei „der erste der solo, unassisted und unsupported die Antarktis überquerte“, so stimmt das bis hier her fürs erste einmal. Und dennoch werden Borge Ousland oder Mike Horn bei dieser Behauptung wohl nur kichern.

Antarktis-Solo-Durchquerungen: Die Routen von Borge Ousland, Mike Horn und Colin O‘ Brady im Vergleich. Alle führten über den Südpol. Die hellgrauen Flächen stellen das Schelfeis dar.

Route ist nicht gleich Route.

Warum? Hier kommt die gewählte Route ins Spiel. Was ich zunächst nicht wusste: Es gibt – wir Menschen sind da einfach großartig – auch in der entlegensten Eiswüste der Welt so etwas Ähnliches wie Straßen. Zum Beispiel der McMurdo-Südpol-Highway, eine Art planierte Versorgungspiste vom Südpol gen Küste durch das ansonsten recht  unwegsame und scharfkantige Eisfeld. Alle paarhundert Meter wippt hier ein Fähnchen als Orientierung im Wind, Gletscherspalten sind zugeschüttet. Immer wieder überfliegen Lastenflugzeuge auf dem Weg zum Südpol die Route, mit etwas Glück kreuzt auch mal ein Schneemobil.

Wer hier läuft, hat in vielerlei Hinsicht natürlich einen unglaublichen Vorteil. O Brady war auf dieser künstlich angelegten Route unterwegs, weshalb einige die Klassifikation seines Projekts als „unassisted“ bezweifeln.  Ousland und Horn hingegen, wählten ihren eigenen, zuvor niemals begangenen, unebenen und somit deutlich anspruchsvolleren Weg fernab jeglichen „Trubels“.

Auch – und das ist (siehe Karte) vielleicht der entscheidende Punkt – war „O‘Bradys“ Antarktis mit knapp 1.500 KM deutlich kleiner, als die von Ousland (2.845 KM), bzw. Mike Horn (5.100 KM). Das wiederum liegt daran, was man für die Antarktis hält: Gehört das Schelfeis eines Eiskontinents jetzt zur Landmasse, oder nicht? Ihr ahnt es vielleicht: O’Brady hat diese Frage für sein Projekt mit „Nein“, Ousland mit „Ja“ beantwortet. Für Horn spielte das Thema aufgrund seiner komplett anderen Routenwahl durch das fernab liegende Inlandeis keine entscheidende Rolle. Und schon wird ein Schuh daraus.

Schlafen gestrichen.

Im Zusammenhang mit der Länge der gewählten Route, kommt aber noch ein weiterer wichtiger Punkt hinzu. Er betrifft die Nutzung eines Kite-Schirms und somit die Kategorie „unassisted“. Mindert so ein Hilfsmittel nun die Überquerungsleistung oder nicht? Als Outsider ist man versucht spontan mit „Ja“ zu antworten, nicht wahr?

So verweist O’Brady darauf, dass Borge Ousland (Anm. d. Verf.: und später auch Horn) sich von einem Schirm (= assisted) hatte ziehen lassen, er selbst hingegen nicht. Das stimmt. Den Schirm brauchte er bei 1.500 KM Gesamtdistanz aber auch gar nicht. Die anderen beiden hatten für ihre Routenlängen über 3.000 KM (Ousland) und 5.100 KM (Horn) hingegen keine andere Wahl als die Hilfe des Windes in Anspruch zu nehmen. Denn das für solche Vorhaben zur Verfügung stehende Zeitfenster ist aufgrund zahlreicher Faktoren (Wetter, Vorräte, etc.) für alle in etwa gleich groß. Auf den Kite zu verzichten, hätte für Horn somit bedeutet, täglich mehr als das Dreifache von O’ Brady laufen zu müssen. Schlafen für zwei Monate gestrichen…

Zudem, gab Horn in einem Interview mit ROAM zu bedenken, sollte man sich die Nutzung eines Kites auf Skiern abseits planierter Pisten und somit im von Spalten und Kanten durchzogenen Eis nicht zu einfach, angenehm oder gar risikolos vorstellen. Insbesondere, wenn man allein unterwegs ist. Ein Sturz bei teils knapp 50 km/h also fatale Folgen haben kann, weil über der Route eben keine regelmäßigen Versorgungsflüge hinwegbrausen.

Sport oder Abenteuer?

Und wer hat jetzt Recht? „Alle!“, möchte man sagen. Sind doch alles prächtige Jungs und #eiskinder! Insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich in der Wildnis erbrachte Abenteuerrekorde, nun mal nicht wie Leichtathletikleistungen in der kuscheligen Halle miteinander vergleichen lassen. Darüber hinaus bleibt allerdings die Frage der Identität, Authentizität und Philosophie eines Protagonisten: Reden wir von Sport, oder von Abenteuer? Sportlich ist O’Bradys „Lauf“ zweifelsohne großes Kino. Aber war er im Konzert der anderen Szenegrößen auch ein echtes Abenteuer im Sinne des Pioniergedankens? Und was zählt – Mike Horn wählte dafür beispielsweise ein Segelschiff – die Art der An- / Abreise in die Antarktis?

Der berühmte Explorers Club hat für O’Bradys Überquerung in seinem Glückwunsch-Statement sodann die Bezeichnung „unassisted“ geschickt vermieden. Auch hat er nicht die Gelegenheit ausgelassen, dabei Borge Ouslands Leistung knapp zehn Jahre zuvor gleich mit zu erwähnen. So ist für viele Antarktis-Schwergewichte, darunter auch Mike Horn, wohl Ousland der Pionier. Die meisten internationalen Medien hingegen, haben die Darstellung O’Bradys übernommen.

Experten- gegen Massen-Meinung: Was denkt Ihr?

Quellen:

Wikiwand.com: Diverse Infos zu Colin O’Brady, insbesondere zu seiner und Borge Ouslands Route (Karte) und zum darüber in der Szene entbrannten Disput, ob nun O’Brady oder Ousland der erste mit dieser Art von Überquerung (solo, unsupported, unassisted) sind.

Roamtv.com: Die Meinung von Mike Horn zum Thema Gleitschirm, seine Einschätzung von Ousland als dem eigentlichen Pionier, sowie Beschreibungen zum Charakter des McMurdo-Südpol-Highway.

Explorersweb.com: Die Charakterisierung des genannten McMurdo-Südpol-Highways, die Klassifikationsbeschreibung von „unsupported“ und „unassisted“, sowie die damit verbundenen Zweifel, ob O’Bradys Leistung als „unassisted“ gelten kann.

Explorersweb.com II: Sehr tiefgehende Informationen zu früheren Antarktisdurchquerungen, Rahmenbedingungen (limitierte Zeitfenster), Standards und Routen. Sehr klare Meinung zu O’Brady.

Spiegel Online: O’Bradys Behauptung, er sei der erste der allein und ohne Hilfe die Antarktis durchquert habe.

Explorers Club: Das Statement zu O’Bradys erfolgreicher Antarktis-Durchquerung

ColinObrady.com: Allgemeine Infos zu O’Brady, sowie seine Einschätzung von Ouslands Leistung. Dazu ein guter Querschnitt durch die weltweite mediale Berichterstattung.

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