Nickerchen mit Steinböcken.

Früh am Tag erreiche ich die Göppinger Hütte. Und mit ihr, etwas irritiert vom ausbleibenden Spülgeräusch des Herrn in der Nachbarkabine, die erste Trockentoilette meines Lebens. Was es nicht alles gibt. Und wie sich doch auf kluge Art und Weise wertvolles Wasser sparen lässt! Zweite Überraschung: Die auf Grund dieser Mechanik befürchtete Geruchsbelastung bleibt aus. Warum machen das andere (Hütten) nicht? denke ich mir und starte zu etwas, worauf ich mich seit gestern Abend schon wie ein kleines Kind gefreut habe.

Steinböcke! Über all die Stunden, die ich schon in den Bergen verbracht habe, war mir ein Zusammentreffen mit Ihnen bislang nie vergönnt. Das soll sich ändern, jetzt und hier. Denn laut eines Herrn der mir beim gestrigen Abendessen gegenübersaß, lebt hier im Hüttenumfeld ein großes Rudel, das er beobachten konnte. Ich packe also mein Fernglas, fülle meinen Trinkschlauch und beschließe mein Glück solange zu versuchen, bis es dunkel wird.

Ich blicke mich um. Wo würde ich als Steinbockchef meine Familie in Sicherheit wägen? versuche ich mich in die Lage der Tiere zu versetzen. Bestimmt nicht an der Hütte. Auch nicht im Umfeld des Steigs hinauf zur Hochlichtspitze. Am ehesten wohl an den gegenüberliegenden Wänden dort hinten, denke ich mir. Allerdings glaube ich nicht, ohne dem Herrn gestern Abend zu nahe treten zu wollen, dass sich dieser nach seiner Tagesetappe noch einmal so weit von der Hütte entfernt hat. Also beschließe ich die Hochlichtspitze einfach solange zu umrunden, bis ich zu ihren Sonnenhängen abseits des Trubels gelange. Und traue bereits fünf Minuten später meinen Augen nicht.

Direkt vor mir liegen sie in der Sonne. Zuerst sehe ich zwei Mamas mit Kind. Dann weiter oben drei weitere, die ich als Jungs bezeichnen würde. Dann, noch weiter oben einen großen, den ich einige Zeit lang für Cheffe halte. Bis ich am Ende insgesamt zwanzig Tiere ausmache und ganz zum Schluss den eigentlichen Boss auf einem alles überragenden Felsvorsprung entdecke. Ein Tier mit den gefühlten Ausmaßen eines Kleinwagens und einfach unglaublich langen Hörnern. Ich bin berührt und begeistert, lege mich hinter eine Mooskuppe und beobachte die Szenerie durch mein Fernglas, bis mir die Arme einschlafen. Später beschließe ich es den Armen (und Tieren) gleichzutun und ebenfalls ein Nickerchen zu machen. Als ich wieder aufwache, hat das Rudel begonnen im tiefer stehenden Nachmittagslicht mit seinen Kindern zu spielen. Was für ein Geschenk.

Es wird nass

Noch vollends erfüllt vom heutigen Tag, wandern meine Gedanken bereits zu morgen, als einige Stunden später die Abendsonne ein paar Wolken über dem Spullerschafberg in glühendes Rot taucht und ihm dabei das Aussehen eines Vulkans verleiht. Mein erstes Mal per Boot auf dem Lech steht an! Und davor geht es für knapp vierzig Kilometer endlich auf mein im Tal wartendes Bike.

„Du hast Glück, durch den zurückliegenden Regen können wir eine längere Strecke fahren als geplant. Wir starten also in Bach“, begrüßt mich Clemens am darauffolgenden Mittag in seinem Paddelcamp bei Häselgehr. Aufgeheizt von der kurzen aber intensiven Bikeetappe zucke ich etwas, als kurz darauf das eiskalte Wasser in meinen Neo strömt und besteige erwartungsvoll mit zwei Familien das quietschrote Raftingboot. Die Kanadavergleiche, auf die ich bei meiner Vorfeldrecherche zum Paddeln am Lech immer wieder gestoßen war – sie halten Wort und ich bin überwältigt. Die teils unweit des Flusses verlaufende Autostraße ist selten zu hören. Im Fokus stehen vielmehr smaragdgrünes Wasser, weiße Gischt, grüne Wälder, graue Felsen zu beiden Seiten und dazwischen ein Spalt kobaltblauer Himmel.

Als ich ein paar Tage später zum Nachdreh der Bootspassage vorbeischaue, darf ich alles nochmal und zusammen mit meinem großen Sohn als Paddelpartner im Zweierboot erleben. In Kanada würde es wirklich nicht anders aussehen, denken wir dabei und versuchen uns vorzustellen, wie der Lech auch in Höhe Augsburgs auf bis zu zwei Kilometern Breite durch sein weites Tal mäanderte, bevor er durch die Verbauung in sein enges und gerades Bett gezwängt wurde. „Von den daraus für Euch entstandenen Problemen und der anstehenden Renaturierung habe ich übrigens erst durch Deinen Blogpost erfahren“ erzählt uns Clemens später im Camp und ergänzt: „Wir hier im Tiroler Lechtal haben immer mit dem Fluss gelebt. Ganz gemäß dem Sprichwort „der Lech gibt, der Lech nimmt“.

Abends auf dem Zeltplatz rücke ich nach der Flussetappe von #LICCA17 im großen Raftingboot meine Isomatte ganz nah an den Fluss heran und schlafe bereits, als mich das Klatschen dicker Regentropfen weckt. Später im Zelt kommt noch Gewitter hinzu, dessen düstere Wolkenreste mich am Folgetag auf dem Bike noch bis Füssen begleiten sollten, wo ich am Lechfall schließlich das offizielle Ende des Lechquellenwegs erreiche.

Schlusspunkt Wildnis

Es ist noch früh – gerade mal zehn Uhr vorbei – das Wetter ist ab Forggensee ein Traum und so beschließe ich zwei Etappen zusammenzulegen und einfach bis nach Augsburg und zur Wolfzahnau, meinem Ziel, durchzufahren. Die Stunden verfliegen – nicht zuletzt, weil mir die Gegend spätestens ab Schongau aus unzähligen Biketouren mehr als vertraut ist.

Am Hochablass, dem wichtigsten Lechwehr in Augsburg, hat mich schließlich die Zivilisation vollends wieder zurück – eine Welt und Stadt, wie sie vor hunderten von Jahren quasi aus den Wassern des Lech entstand. Dem Fluss, von dem ich nun endlich weiß woher er kommt und welchen Weg er bis hierher genommen hat. Zufrieden rolle ich die letzten Meter bis zur Wolfszahnau, dort wo Lech und Wertach zusammenfließen.

Kurz kommt mir der Gedanke, noch rasch die letzten vierzig Kilometer bis zur Lechmündung in die Donau dranzuhängen. Nur um sagen zu können, ich habe den kompletten Fluss von der Quelle bis zur Mündung „bezwungen“? Nein, überlege ich entspannt. Es könnte keinen besseren Schlusspunkt für #LICCA17 geben, als die Wolfszahnau. Ein Stückchen Land so wild, wie der Lech an seiner Quelle.

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